person holding black mask
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Das falsche und das wahre Selbst

Was mache ich eigentlich hier? Diese Frage ist mir schon oft in den Sinn gekommen, ohne dass ich es wollte. Der Gedanke war einfach da zusammen mit dem Gefühl total fehl am Platz zu sein. Egal ob ich bei bekannten Familien zum Spieleabend war, irgendeiner Arbeitsstelle oder mit Kumpels, manchmal sogar in der Verwandtschaft. Die Leute konnten sich miteinander vergnügen, sich zanken oder was auch immer. Und plötzlich habe ich mich nicht mehr zugehörig gefühlt.

Ob es eine Erkenntnis, ein Drang oder ein Wunsch war, woanders zu sein, kann ich nicht wirklich beschreiben. Nur dass es nicht irgendein anderer Ort oder Party war, wo ich in dem Moment lieber gewesen wäre.

Nein, es war das Gefühl, dass es einen ganz bestimmten Ort oder ein völlig anderes Leben geben muss und dass ich in Wirklichkeit jemand anderes bin. Als ob ich nur etwas vorspiele, und ich es einfach nur noch satthabe. Dass, ich nicht nur dabei bin meine Lebenszeit, sondern mich selbst hinter dieser Fassade zu verschwenden.

Die Theorie des falschen und wahren Selbst wurde von dem britischen Psychoanalytiker und Kinderarzt Donald Winnicott entwickelt. Winnicott, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts arbeitete, war bekannt für seine tiefgehenden Erkenntnisse über die Entwicklung der menschlichen Psyche und die Bedeutung der frühen Kindheitserfahrungen. Seine Ideen beeinflussen bis heute die Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie. Eine seiner zentralen Theorien, die vom "wahren" und "falschen Selbst," beleuchtet die Dynamiken zwischen authentischem Selbstausdruck und den Anpassungsmechanismen, die Menschen im Laufe ihres Lebens entwickeln, um in sozialen Umgebungen zu überleben und zu funktionieren.

Das wahre Selbst

Winnicott beschreibt das wahre Selbst als das authentische, spontane und kreative Zentrum eines Menschen. Es repräsentiert die tiefste, unverfälschte Essenz der eigenen Persönlichkeit und den Kern dessen, was wir als "uns selbst" erleben. Dieses Selbst ist in der Lage, eigene Wünsche, Bedürfnisse und Emotionen klar zu erkennen und auszudrücken. Es ist von Natur aus lebendig und reagiert flexibel auf die Welt.

Das wahre Selbst entwickelt sich in der frühen Kindheit durch die Beziehung zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson (in der Regel der Mutter). Eine „gute genug“ Mutter – wie Winnicott es nennt – ist jemand, der in der Lage ist, auf die emotionalen und physischen Bedürfnisse des Kindes mit Empathie und Verlässlichkeit zu reagieren. Dadurch entsteht ein sicherer Raum, in dem das Kind sein wahres Selbst entdecken und ausdrücken kann, ohne sich anpassen zu müssen.

Wenn das wahre Selbst gefördert wird, entwickelt das Kind Vertrauen in sich selbst und seine Umwelt. Es lernt, dass seine Wünsche und Gefühle wertvoll sind, und dass es okay ist, diese auf gesunde Weise zu äußern. In diesem Prozess entwickelt es auch die Fähigkeit, authentisch und selbstbewusst in der Welt zu handeln.


Das falsche Selbst

Das falsche Selbst entsteht, wenn das Kind das Gefühl hat, dass seine echten Wünsche und Gefühle nicht akzeptiert oder gefährlich sind. In solchen Fällen entwickelt das Kind Schutzmechanismen, um sich an die Erwartungen und Bedürfnisse seiner Umwelt anzupassen. Diese Anpassungen sind oft notwendig, um Liebe, Zuneigung oder sogar einfaches Überleben zu sichern. Statt also das wahre Selbst zu leben, entwickelt das Kind ein falsches Selbst – ein konstruiertes Selbst, das den äußeren Erwartungen entspricht und dadurch die wahren Gefühle unterdrückt.

Winnicott sieht das falsche Selbst nicht zwangsläufig als etwas Negatives oder Schädliches an. Es kann in vielen Fällen eine notwendige Reaktion auf schwierige oder feindliche Umgebungen sein. Wenn das Kind jedoch ausschließlich durch sein falsches Selbst lebt, kann dies langfristig zu psychischen Problemen führen. Das falsche Selbst verhält sich wie eine Maske oder ein Schutzschild, das das wahre Selbst verbirgt. Obwohl es in manchen Situationen funktional sein kann, führt es oft zu einem Gefühl von Leere oder Entfremdung. Der betroffene Mensch fühlt sich vielleicht erfolgreich oder angepasst, aber innerlich unverbunden und unzufrieden.


Entwicklung des falschen Selbst

Weiter legt er großen Wert auf die Rolle der frühen Mutter-Kind-Beziehung in der Entwicklung des falschen Selbst. Wenn eine Mutter (oder andere primäre Bezugspersonen) unfähig ist, die authentischen Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen oder auf sie einzugehen, wird das Kind gezwungen, sich an die Wünsche und Erwartungen der Mutter anzupassen. Zum Beispiel könnte eine Mutter ein besonders gehorsames oder ruhiges Kind bevorzugen, das keine lauten oder unangemessenen Bedürfnisse äußert. Um die Liebe der Mutter zu behalten, könnte das Kind lernen, seine eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken und ein falsches Selbst zu entwickeln, das den Wünschen der Mutter entspricht.

Auch äußere Faktoren wie rigide gesellschaftliche Normen, Erwartungen in der Schule oder strenge Erziehungsmethoden können zur Entstehung eines falschen Selbst beitragen. Das Kind passt sich an die Normen an und lernt, seine eigenen Emotionen und Impulse zu kontrollieren oder zu unterdrücken.


Die Folgen des falschen Selbst im Erwachsenenalter

Menschen, die ein starkes falsches Selbst entwickelt haben, tragen oft das Gefühl von innerer Leere oder Unverbundenheit mit sich. Sie sind zwar in der Lage, in sozialen oder beruflichen Kontexten gut zu funktionieren, aber oft mit dem Gefühl, nicht wirklich sie selbst zu sein. Ihre sozialen Interaktionen und Beziehungen können oberflächlich wirken, und sie erleben möglicherweise ein tiefes Bedürfnis nach Authentizität, wissen aber nicht, wie sie es leben können. Oft spüren sie ein unerklärliches Gefühl von Erschöpfung oder Depression, da sie ständig eine Rolle spielen und ihre wahren Gefühle verstecken.

Menschen mit einem stark ausgeprägten falschen Selbst können auch Schwierigkeiten haben, enge Beziehungen einzugehen. Sie fürchten, dass sie, wenn sie ihre wahren Gefühle zeigen, abgelehnt oder nicht verstanden werden. So behalten sie ihre Maske des falschen Selbst bei, um sich vor Verletzungen zu schützen, was jedoch zu Einsamkeit und Isolation führen kann.


Heilung: Der Weg zurück zum wahren Selbst

Er betonte, dass Heilung darin besteht, den Raum für das wahre Selbst wieder zu öffnen. Dies erfordert oft ein sicheres, empathisches Umfeld – sei es durch Psychotherapie oder durch enge, unterstützende Beziehungen – in dem der Mensch lernt, seine wahren Gefühle zu erkennen und zu akzeptieren. Die Aufgabe des Therapeuten oder einer unterstützenden Person besteht darin, dem Klienten das Gefühl zu geben, dass es sicher ist, seine wahre Natur zu erforschen und auszudrücken.

Im Heilungsprozess können Betroffene lernen, dass ihre wahren Wünsche und Bedürfnisse wertvoll sind und sie sich trauen können, diese zu leben, auch wenn dies anfangs mit Angst oder Unsicherheit verbunden ist. Dieser Prozess der Rückkehr zum wahren Selbst kann sehr befreiend sein und dazu führen, dass Menschen ein authentischeres, erfüllteres Leben führen.


Relevanz für ADHS

Für Menschen mit ADHS kann die Theorie des falschen und wahren Selbst besonders relevant sein. Viele ADHS-Betroffene erleben seit ihrer Kindheit, dass sie anders sind und den Erwartungen ihrer Umwelt nicht entsprechen. Dies kann dazu führen, dass sie ihr wahres Selbst unterdrücken und ein falsches Selbst entwickeln, um Akzeptanz zu finden. Die ständige Anpassung an äußere Erwartungen, während man innerlich das Gefühl hat, nicht dazuzugehören, kann zu innerer Zerrissenheit und emotionaler Belastung führen. Die Rückkehr zum wahren Selbst – das heißt, die Akzeptanz der eigenen Impulsivität, Kreativität und Einzigartigkeit – könnte für Menschen mit ADHS ein wichtiger Schritt zur Heilung und Selbstakzeptanz sein.